Auf der Carretera Austral

Wenn man von Argentinien wieder nach Chile möchte, steht einem ein Abenteuer bevor. Das ist irgendwie klar. Ist nur die Frage, wie ist aussieht. Diese Landverbindung wurde erst in dieser Saison wiedereröffnet, nachdem sie während Covid stillgelegt war. Wenn man aus südlicher Richtung kommt, nimmt man die erste Fähre über den Lago del Desierto und findet auf der Nordseite des Sees den argentinischen Grenzposten. Danach schwingt man sicher eher nicht auf den Sattel, sondern lernt das Fahrrad mal aus einer anderen Perspektive kennen. Für sieben Kilometer geht es (meist leicht bergauf) durch den Wald und über Stock und Stein. Dann mitten im Nirgendwo jeweils ein Schild, das einen in Argentinien oder Chile willkommen heißt. Da wird klar, dass man gerade eine internationale Grenze übertritt. Wir bereiten ein schnelles Mittagessen mit einer verbliebenen Zucchini vor – diese darf nämlich nicht nach Chile eingeführt werden. 

Während des Mittagessens kommt plötzlich verschwitzt und schwer atmend ein Mann mit schwerer Tasche auf dem Rücken angerannt. Es stellt sich heraus, dass er einer der beiden Kapitäne der zwei Fähren über den Lago O’Higgins ist. Er teilt uns mit, dass die Abfahrt der Fähre, welche für Montag Vormittag geplant war, wetterbedingt nun auf Samstag Abend vorverlegt wird. Glück für uns. Wie wir vor allem in den kommenden Wochen so mitbekommen, ist die Situation mit den Fähren nämlich gar nicht so planbar. Die kleinen Boote können nur bei guten Bedingungen fahren und wahrscheinlich gibt es keine Woche im Jahr in der sie mal durchgehend nach Fahrplan verkehren. Zeitweise warten vor allem auf der Nordseite des Sees (von Norden nach Süden ist aufgrund der Winde die beliebtere Reiserichtung) bis zu 30 oder 40 Rad- und Fußreisende auf die Überfahrt. Na ja wir sitzen also noch am gleichen Abend in der zweiten Fähre und können uns glücklich schätzen, dass wir nicht irgendwo mittendrin gestrandet sind. Zudem werden uns ja auch noch 1,5 Tage geschenkt. Oder? 

Als wir abends um 21.30 Uhr dann am Hafen von Villa O’ Higgins ankommen, realisiert Anne, dass die spontan frühere Ankunft für ihre Schuhe wohl zu schnell war. Wir stellen also fest, dass sie noch auf der anderen Seite des Sees liegen, an einem Ort an dem außer einer Farm und der chilenischen Grenzpolizei nichts ist. Und an einem Ort, der in den nächsten Tagen erst einmal nicht erreichbar ist, da das Wetter ja umschwingt. Wir gehen schon verschiedene Szenarien durch, wie wir Tage lang auf die Schuhe warten müssen und die Grenzpolizei benachrichtigen müssen, als sich dann durch Zufälle ergibt, dass die Schuhe ihren Weg nach Villa O’Higgins noch am selben Tag wie wir gemacht haben! Ein deutsch-uruguayischer Backpacker hat sich noch an Annes Schuhe erinnert und sie auf gut Glück mit der zweiten Fähre, die am Abend zuvor auch noch abgelegt hat, mitgenommen.  Nach ein wenig Detektivarbeit in Villa O’Higgins finden wir ihn und die Schuhe wieder und finden uns wenig später Mate trinkend über die Welt philosophierend  vor mit ihm und seinen australischen Mitstreitern.

So können wir uns also dann schließlich doch auf den Weg machen. Die ersten Etappen auf der Carretera Austral erinnern an einen Regenwald. Dazu zwitschert, plätschert und raschelt es überall. Nach jeder Kurve und jedem kleinen Hoch und Runter gibt es etwas neues zu sehen. Im Kontrast zur weitläufigen, flachen argentinischen Pampa ein willkommener Kontrast. Umso erstaunlicher, dass nur 150km Luftlinie dazwischenliegen… 

Da Anne ein Arbeitsmeeting hat und wir dafür Internet brauchen, fahren wir in 3 Tagen 280km und 7.000 Höhenmetern auf Schotterpiste bis nach Cochrane. Der Pausentag ist vor allem für den Po daher bitter nötig. Nebenbei nutzen wir ihn zum Wäsche waschen und Besorgungen für die Weiterreise. Und natürlich wird den ganzen Tag gegessen. Wir sind gerade im Tankmodus. In den letzten sieben Wochen haben wir schon knappe 5kg Erdnussbutter verdrückt – der beste Treibstoff! Abends führen wir mit Thomas, unserem Schweizer Reise-Rad-Kletter-Freund ein Gespräch über Milliardäre, die schon anfangen, sich Grundstücke auf dem patagonischen Eisfeld zu sichern, um sich Wasser für die Zukunft zu sichern. 

Wir fahren weiter nach Villa Cerro Castillo. Noch einmal 200 km auf der Schotterpiste, die schönen Landschaften entschädigen. Und nette Begegnungen schenken ein bisschen Glauben an Solidarität und Nächstenliebe zurück. Zum Beispiel warnt uns ein Herr auf seiner Obstwiese, wo wir ungefragt schlafen wollten, dass wir wegen des Hantavirus vorsichtig sein sollen und bringt uns gleichzeitig heißes Wasser mit und bietet uns noch an, Früchte zu pflücken. Ein anderer hält an und schenkt uns ein Radler und erzählt uns, dass er die Strecke schon vor 15 Jahren gefahren ist. Wir wollen gar nicht wissen, wie die Straße dort ausgesehen haben muss. Die letzten 15 km vor Villa Cerro Castillo wechselt sich dann der Untergrund von Schotter zu Asphalt – da kommen Glücksgefühle auf. Vor allem wenn man die lange Abfahrt durch gigantisches Panorama darauf genießen kann. Die folgenden 3,5 Tage in Cerro Castillo verbringen wir mit Klettern und treffen auch Thomas wieder. 

Nach einer weiteren Tagesetappe, die wir vor allem dank einer geschenkten Packung Kekse überstehen, kommen wir in Coyhaique an. Das ist nun nach 7 Wochen und ca. 1400 zurückgelegten Kilometern die erste 50.000 Einwohner Stadt. Schnell fühlt man sich fremd. An einem Samstag Abend kommen wir an und man fährt an so vielen Läden vorbei, die Dinge verbrauchen, deren Funktionalität und Nutzen fragwürdig sind. Das minimalistische Radreisen zeigt einem ja das extreme Gegenteil. 

Wetterbedingt gönnen wir uns auch ein Dach über dem Kopf – für den darauffolgenden Tag sind Windgeschwindigkeiten bis zu 100km/h und starker Regenfall vorhergesagt. Bevor der Weltuntergang einsetzt, erlebt Anne ihren eigenen kleinen Weltuntergang. Nach einer kurzen Kletterei an einer Testkletterwand vor einem Outdoorladen fällt Anne neben die Matratze auf die Holzpalette und verstaucht sich das Handgelenk. Glück im Unglück. Nichts gebrochen, aber die Weiterfahrt wird erstmal nach hinten verschoben. Nach drei Tagen Pause und dem Kauf einer Schiene sind wir jetzt wieder auf der Straße. 

Bei dem Regen im Überfluss ist es schwer vorstellbar, dass Chile eines der Länder ist, welches weltweit am stärksten von Wasserstress betroffen ist. Das heißt, mehr Wasser wird verbraucht als auf natürlichem Wege im Land verfügbar ist. In der Mitte und dem Norden des Landes herrscht seit 10 Jahren eine Dürre, die Privatisierung von Wasser macht die Situation noch schlimmer. 80% des Wasserverbrauches sind auf die exportorientierte Landwirtschaft zurückzuführen. Ausgetrocknete Seen, abgestorbene Bäume und eine braun-graue Farbpalette. Nebenan die grünen Avocado-Plantagen, die Güter für den Export produzieren. Der landwirtschaftliche Export kollidiert mit dem Menschenrecht auf Wasser für die lokale Bevölkerung. Tatsächlich geht die Reform auf Augusto Pinochet zurück. 1973 leitet er mit einen Putsch in Chile eine 17-jährige Diktatur ein, das zuvor eine sozialistische Demokratie war. Wir erfuhren noch in Santiago de Chile, dass unser Vermieter des AirBnbs, Hugo, verjagt wurde, als Professor für Architektur an der Universität von Santiago. Durch Argentinien und Kolumbien gelang es ihm später in Frankreich Asyl zu erhalten und er kehrte später zurück. Die sozialdemokratische Regierung vor Pinochet realisierte Reformen von einer anderen Zeit – Reformen, vor ihrer Zeit, von feministischer Gleichberechtigung bis hin zur gesetzlichen Krankenversicherung und Bildung für alle. All dies wurde mit Pinochet zu Nichte gemacht. Eine Universitätsbildung ist vergleichbar teuer wie in den Vereinigten Staaten, Wasser-, Land- und sogar Nationalparks werden reihenweise privatisiert und eine staatliche Krankenversicherung gibt es nicht. Der Putsch wurde gemäß Henry Kissinger durch die Vereinigten Staaten heraufbeschworen, indem sie „die größtmöglichen Voraussetzungen“ schaffte. Wieso? Die sozialdemokratische Regierung von Salvador Allende, ein Arzt, war den Amerikanern zu kommunistisch. Falls einem noch mehr solcher Geschichten einfallen, der möge uns gerne seinen Favoriten mitteilen. Die Diktatur von Mobutu in Kongo folgt einem schrecklich ähnlichen Muster, wobei hier die USA zusammen mit Belgien kräftig mitgeholfen haben ein demokratisches Kongo niederzureißen und Mobutu aktiv bei seinem Putsch unterstützt haben.

Heute ist Chile eine konservativ geprägte Demokratie. Den Schatten der Diktatur haben sie bis heute nicht abschütteln können. Milliardäre aus dem Ausland können sich uneingeschränkt die Ressourcen des Landes sichern, auf Kosten der Chilenen. Die Dürre wirkt als Brandbeschleuniger. Unter diesem Voraussetzungen ist nur eine Frage der Zeit bis die letzten Wasserspeicher aufgebraucht sind und – ja genau, die Avocadoproduktion einbricht und die weltweite Avocadoversorgung einbricht. Eine Katastrophe.

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