Ein letzter Atemzug Patagonien

Wir haben schon länger nicht mehr von uns hören lassen, aber wir haben da noch was. Ein kleines verspätetes verstecktes Osterei. Dies wird der letzte Blogeintrag unserer gemeinsamen Reise sein. Duc ist mittlerweile wieder zurück in Deutschland seit Ende März und Anne hat ein Praktikum in La Serena, im Norden Chiles angefangen. Dazu in einem weiteren Bericht mehr. 

Nachdem wir der teils von deutschen Siedlern geprägten Stadt Puerto Varas (es gibt eine Bäckerei names Vollkornbrot) haben wir uns auf den Weg nach Cochamó gemacht. Um Annes Hand zu schonen, haben wir uns für eine Mischung aus Fahrrad und Bus entschieden. Auf dem Teil, den wir mit dem Fahrrad gefahren sind, hat Annes Hugo aber kräftig protestiert und wir hatten gleich zweimal einen Platten und konnten nur Dank der Schlauchspende eines vorbeifahrenden Radfahrers weiterfahren. Es wurde richtig spät und entsprechend dunkel, so dass Duc noch am Gelände einer schmalen Brücke hängenblieb und blutete. Nachts, hungrig und genervt, kommen wir an einer Pommesbude an und bestellen mit blutiger Hand unser Abendessen. Pommes mit Majo und Ketchup. Die Frau hatte eigentlich schon zu, konnte uns arme Seelen aber nicht so stehen lassen, also lies sie Duc seine Hand waschen und fütterte uns mit Fast Food. Nach einer Nacht am Strand von Ensenada mit Blick auf den Vulkan Osorno, sind wir dann am nächsten Tag ins Valle de Cochamo aufgebrochen. 

Leider ist dieser wundervolle Fleck Erde nicht Teil des chilenischen Nationalparksystems CONAF. Wenn ihr euch die Bilder anschaut werdet ihr euch auch wundern. Daher haben sich die Bewohner des Tals in einer Organisation zusammengeschlossen, um sowohl Natur- als auch Kulturerbe zu schützen. In den letzten Jahren war das auch mehrmals nötig. Ein Minenbesitzer wollte eine Straße durch das Tal bauen um seine Mine besser zu erschließen und um eine Verbindung nach Argentinien zu eröffnen. Ein anderes Mal wollte ein Energieversorger seine Stromleitungen durch das Tal führen mit dem Versprechen an die Bewohner des Tals, sie auch an das Netz anzuschließen. In dem Vertrag der mit den Bewohnern abgeschlossen werden sollte, wurde ein Stromanschluss allerdings nicht erwähnt. In beiden Fällen konnten die Projekte durch den starken Zusammenhalt im Tal und durch das Eingreifen der Regierung wieder gestoppt werden. Der organisierte Zusammenschluss der Menschen ist daher bitter nötig um gegen die starken äußeren Einflüsse ankämpfen zu können. Da kann man nur hoffen, dass Gemeinschaft und Wertschätzung noch lange gegen kapitalistische Einzelinteressen ankommen können. Den Orte wie Cochamo müssen geschützt werden, am besten auch per Gesetz. 

Man kommt also in dem Tal an und nach dem Ende der Schotterstraße und der Registrierung im Besucherzentrum, stapft man bald das erste Mal durch den Matsch, der einen von da an noch den weiteren Weg begleiten wird. Um dem Matsch zumindest großflächig auszuweichen, tanzt man die folgenden 13 km von Stein zu Baumstamm allmählich in das Tal hoch. In dieser Region beträgt der durchschnittliche Jahresniederschlag 3500mm (ca. das 100-fache vom 1500km nördlich gelegeneren La Serena), das spiegelt sich deutlich in der Fauna und Wegbeschaffenheit wieder. Aber es gehört irgendwie auch einfach zu Cochamo dazu. Solange man im Schutz des Regenwaldes läuft, enthält eben auch der Boden viel Wasser. Den ersten Blick auf die empor ragenden Granitwunder können wir auf einer kleinen Wiese erhaschen, wo wir in der Sonne einen zweistündigen Mittagsschlaf genießen. An den Campingplätzen schließlich angekommen, zieht uns das Tal weiter in seinen Bann. Umgeben von steilen Granitwänden eröffnet sich eine saftige Wiese an einem eiskalten, klaren Fluss. Die Abendsonne scheint noch die obersten Gipfel an und es legt sich langsam ein Teppich aus Tau über die Fläche. Je dunkler es wird, desto mehr kann man sich allerdings am Blick nach oben erfreuen. Es ist Neumond, die nächste Stadt und Lichtquelle weit weg. Ab jetzt kann man sich kaum an Milchstraße und Sternschnuppen satt sehen. 

Wir bleiben drei Nächte in der Internetlosigkeit und leben von dem, was wir eben auch hochgetragen haben. Wir machen zwei Tageswanderungen mit gigantischen Aussichten und einigen Höhenmetern. Ducs Herz blutet, weil er den Fels nur anfassen aber nicht hochklettern darf. Annes auch, aber die eine Hand funktioniert ja sowieso noch nicht. Unter den Campingplatzbetreibern ist auch die deutsche Aussteigerin Lina aus München. Sie war vor einigen Jahren selbst auf einer Radreise durch Patagonien und kam so in Cochamo vorbei und schließlich zwei Jahre später wieder zurück um zu bleiben. Seitdem wohnt sie im Tal, baut Gemüse an und kümmert sich um die Trockentoiletten und anderen Einrichtungen des Campingplatzes. Ins Dorf runter geht sie circa ein mal im Monat. 

Die Eindrücke aus Cochamo sind wunderschön und intensiv. Ein einprägsames Highlight zum Ende unserer Reise. Auf gleichem Weg wie wir gekommen sind, fahren wir dann wieder nach Puerto Montt zurück, dem Anfang oder Ende der Carretera Austral. Wir campen unsere letzte Nacht im Zelt im Garten eines süßen Hostel der Gastgeberin Perla. Perla vermietet die Zimmer ihres Hauses, in dem sie mit Tochter und Enkelin lebt, seit über 30 Jahren und kann fließend Englisch. Mit den Äpfeln des Baumes ihres Gartens plant sie zwei Tage später Empanadas zu backen mit ihren Freundinnen um sie am Tag später zu verkaufen. Ihr Haus und Garten ist eine kleine Oase in der hektischen Stadt, die uns aus unserer patagonischen Parallelwelt langsam wieder herausholt. Denn nach einem Fußballspiel im Park an der Promenade müssen wir unsere Fahrräder auseinander schrauben um den Nachtbus nach Santiago zu nehmen. Von hier fliegt Duc schließlich einen Tag später nach Europa zurück und Anne nimmt den Bus nach La Serena. 

In den vergangenen Wochen haben wir das Sprichtwort “Nur wer durch Patagonien eilt, verliert Zeit” in vollen Zügen gelebt. Das schrittweise Vorankommen mit dem Fahrrad, die extremen Landschaftswechsel von argentinischer Steppe zu schroffen Granitfelsen, das Ausgeliefertsein vor den Elementen Wind und Wasser, endlose Weiten, in denen der nächste Supermarkt 200km weit weg ist… Patagonien ist ein besonderer Ort mit einzigartigen Aussichten und Naturschauspielen. Auch wenn man das Gefühl hat, die Zeit könnte hier stehen geblieben sein (was sie auch quasi tut, wenn man nie auf die Uhr schaut) zeichnen sich mittlerweile auch hier die Krisen unserer Zeit ab. Das letzte kontinentale Eisfeld schmilzt zu schell und reiche weiße Männer kaufen sich Land unter dem Eis, um sich Wasser für die Zukunft zu sichern. Ein Ort, der trotz oder gerade wegen seines Reichtums an Biodiversität, Wasser und Wildnis ein armes Opfer ist. Es wird Zeit für ein System, das Mensch und Natur gleichermaßen schützen kann. Für uns war Patagonien ein lehrreiches Abenteuer und wunderbarer Fleck Erde, den wir wohl für immer im Herzen behalten werden. Wir sind dankbar diese Reise gesund und munter erlebt haben zu dürfen. 

Mal noch in einigen Facts zusammengefasst:

  • 78 Tage von Punta Arenas bis zum Ende der gemeinsamen Reise in Santiago 
  • 43 Nächte im Wildcamping 
  • Über 2.000 km
  • 17.000HM auf der Carretera Austral
  • 1 Totalschaden (Ducs 1. Fahrrad), 4 Platten, 1 Achter, 1 kaputtes Kugellager 
  • Noch nie zuvor gesehene Wildtiere: Stinktier, Guanaco, Andencondor, Flamingos, Pinguin, Delfine, Kolibri 
  • 734 € pro Person pro Monat (exclusive des Langstreckenfluges) 
  • Manchmal gestritten und wieder vertragen 

Und vielen lieben Dank für euer Interesse und liebe Kommentare und Nachrichten! Es ist schön zu wissen, dass da am anderen Ende der Welt Menschen so mitfiebern. Danke!

TLDR: Chile ist ein Wunder. Welche Fragen uns beschäftigt haben und wie wir die letzten Kilometer der Reise überstanden haben

Nachdem sich Anne die Hand verstaucht hat, beginnen wir langsam weiterzufahren.Die nächsten Kilometer auf der Carretera Austral sollten ja einfach sein. Moderater Wind, und vor allem Asphalt! Da kann man auch mal mit einer unbrauchbaren Hand losfahren. So die Devise. Wir fahren weiter mit Thomas, zu dritt, stimmt unser Rhythmus nicht mehr so ganz. Oder eben anders. Es wird viel Kaffe getrunken, weniger Fahrrad gefahren. Wir schlafen lange und frühstücken bevor wir losfahren. Das bedeutet schlussendlich, dass wir meistens erst um 14 Uhr loskommen. Entsprechend wenig fahren wir, aber das war fein so mit Annes Hand.

Nach Coyhaique folgen nicht viele Städte auf der insgesamt 421 km langen Strecke bis Chaitén.Wir hatten viel Regen und fuhren durch etwa sieben Klimazonen, an drei Nationalparks vorbei und an unzählbar vielen Bergen, schroffen Felswänden, Wasserfällen, Seen und reißenden Flüssen. 

Das Ergebnis waren klamme Klamotten, die nie richtig getrocknet sind, ein kaputtes Kugellager in der Vorderachse und ein paar mitgenommene Brems- und Schaltzüge bei Anne, eine kaputte Speiche und ein ausgebeultes Hinterrad bei mir.

Aber nun mal zu den Highlights. Wir schliefen bei einem verlassenen Campingplatz Aonikenk Karho, in der Nähe des Queluat Nationalparks am hängenden Gletscher. Der ist natürlich atemberaubend, aber wir haben den uns geschenkt.Der Campingplatz wurde von den Besitzern verlassen und offen gelassen, und allen frei zur Verfügung gestellt. Wir haben durchnässt Franzosen getroffen, die den Hauptraum eines der Baumhäuser schon vorgeheizt haben.

Wir waren komplett durchnässt, weil es 25l/Quadratmeter 3h geregnet hat und wir dachten, dass man das ignorieren kann. In Villa Amengual haben wir gerade eine Reihe von Fahrradfahrern getroffen, die das Fahren aufgegeben haben und den Regen per Anhalter übersprungen haben. Die Gebirgskette vor Puyuhuapi kam uns vor wie ein überdimensionierter Luftentfeuchter des Pazifiks. Die stetigen Westwinde wehten die feuchte Luft übetr den schroffen Kamm der Südanden und wir waren im Luftentfeuchter und wollten nicht aufhören zu fahren. 

Etwa 50km weiter Richtung Norden, in Villa St. Lucia hat 2017 ein solcher Starkregen auch dazu geführt, dass ein Erdrutsch einen Gletscher abstürzen ließ. 7 Millionen Kubikmeter Eis, Schutt und Wasser wurde die Ruta 7 runterbefördert und begrub das halbe Dorf. Es ist jedoch keine Seltenheit in der Gegend, dass Starkregen Erdrutsche auslöst und die Infrastruktur der Stadt beschädigt. Als wir ankamen, gab es keinen Strom. Es regnete den ganzen Tag.

50 km weiter nördlich, beim Pumalin-Park hingegen, scheint es wieder trockener zu sein. Wir treffen am Strand auf Delphine und staunen über am Horizont dampfende Vulkane. Den Chaitén Vulkan besuchen wir noch. In der Umgebung stehen kahle Bäume und am Vulkan sieht man noch die getrocknete Lava. Der Vulkan brach 2008 aus und begrub diesmal so ziemlich die komplette Küstenstadt Chaitén unter Asche.

Auf dem Weg nach Chaitén merken wird dass Annes Kugellager im Vorderrad knackt. Die Kugeln haben kein Schmieröl mehr und fallen aus ihrer Position. Ein verrückter Berliner, der in so wenig Zeit wie möglich mit seinem etwa 6000 Euro Fahrrad von Ushuaia nach Alaska fahren möchte, rettet uns, in dem er uns hilft, das Problem ausfindig zu machen und es mit Vaseline (die eigentlich für seinen Hintern gedacht war) wieder in Ordnung bringt. Wir entdecken später einen starken Achter in meinem Hinterrad, und Annes Hand tut mehr weh. Außerdem ist Vaseline nur eine kurzfristige Lösung, wir entscheiden uns daher mit der Fähre abzukürzen. Da sie staatlich subventioniert ist, und für Fahrradfahrer sogar noch billiger ist als für Passagiere, kommen wir für gerade mal 11.000 CLP (ca. 13€) pro Person nach Puerto Montt. Eine 10 Stundenfähre über Nacht.

Wir lassen unser Equipment von der Werkstatt Valencia reparieren und erhalten eine Generalüberprüfung für wenig Geld und frisch gemahlenen Kaffee gratis! Eine Seltenheit in Chile.
Wir fahren die letzten Kilometer nach Puerto Varas. Eine Stadt am Lago Lanquihue, zwischen Vulkanen und Bergen und die nächste größere Stadt in der Region Los Lagos. Eine Region voller Vulkane, riesigen Seen und blanken Granitwundern (Valle de Cochamo). Letzteres ist unser letztes Ziel für diese Reise.

Auf dem Weg hierhin wurde uns eines klar.
Chile hat eine solche Menge von wundersamen Konstellationen, dass der Versuch zu verstehen, wie solche Mechanismen Zustande kommen uns noch lange beschäftigen werden.

Fragen über Fragen wie:

  • Woher kommen diese kontinuierlich vorherrschenden Westwinde? (Diese Frage stellten wir uns denkbar oft)
  • Warum ist es im Zentrum Chiles so trocken? Und warum im Norden?
  • Warum regnet es so kontinuierlich in manchen Zonen und 20km weiter scheint es wieder komplett trocken zu sein?
  • Warum gibt es in Chile die einzige Königspinguinkolonie auf dem Festland?
  • Warum kann man Blauwale, Delphine, Robben in Chiloe und Chaitén fast täglich besichtigen? 
  • Wie kann man Vulkane einschätzen?

Dann gibt es noch gesellschaftliche Fragen, die uns den Kopf zerbrechen lassen:

  • Wie kann Wasser teurer sein als Cola?
  • Wie konnte Pinochets Putsch gegen Allende erfolgreich sein? Es wurden schließlich öffentliche Schulen verkauft, ein freies Gesundheitssystem, sich gegen eine eigene autarke Industrie entschieden und sich auf Rohstoffexport limitiert. Scheinbar wurde sich gegen ein starkes, unabhängiges Chile entschieden, aber wieso?
  • Wieso besitzt Chile eine so hohe Fettleibigkeitsquote (nach Mexiko an zweiter Stelle mit 76%)?
  • Unter Pinochet wurde ein Neoliberalismus angestrebt, der sogar den der USA übertrifft. Wieso wurden sogar Schulen privatisiert? Und wieso behielten die Deutschen das Recht ihre deutschen Schulen in Chile zu betreiben? 

Da Thomas Geographie studiert hat und auch schon als Meteorologe gearbeitet hat, fragt Duc ihn aus, wie das ganze Klima hier zustande kommt.
Ungefähr so: heiße Luft am Äquator mit viel Feuchtigkeit steigt auf, erzeugt ein Tiefdruckgebiet, das Regen erzeugt, auch dadurch, dass die warme Luft beim Aufsteigen abkühlt. Auf Höhe der Atacama Wüste steigt die Luft wieder ab und erwärmt sich und ist trocken. Dort erzeugt es ein Hochdruckgebiet, was zur Folge hat, dass die Luft landauswärts Richtung Pazifik weht.
Es regnet dort praktisch nie. Diese sog. Wendekreiswüste erstreckt sich in der Region Antofagasta. Weiter südlich beginnt die Westwindzone. Das Phänomen am Äquator wiederholt sich in die entgegengesetzte Richtung und viel feuchte Luft vom Pazifik wird in Südosten auf die Südanden geweht, wo dann der Regen abregnet.
Bei 60 Grad südlicher Breite wird durch diesen Prozess der Jetstream angetrieben. 

Die Antworten zu den anderen Fragen liegen irgendwo zwischen Humboldtströmung und dem pazifischen Feuerring.

Die gesellschaftlichen Fragen verbergen ihre Antwort in der Geschichte, und wir treffen auf eine Freundin von Duc, Theresa, die gerade in Aachen über deutschen Schulen in Chile promoviert und hier in Chile eine Forschungsreise macht. Das Thema hört sich spezifisch an, aber man erkennt ihr Interesse für mehr – den Fußabdruck Europas aus der Kolonialismuszeit und gewisse europazentrierte Narrative stellen wir in Frage. Oder in ihren Worten: Sind die deutschen Schulen in Chile ein verlängerter Arm des Kolonialsmus/Imperialsmus? Quellen, die sie uns empfahl sind: https://es.m.wikipedia.org/wiki/Las_venas_abiertas_de_América_Latina ein Buch und das Video

Wir treffen sie zufällig in einem Hostel Climbinghouse in Puerto Vargas. Bis spät verfallen wir in hitzige Diskussion und interessierte Befragungen. Eine kurze Antwort gibt es nicht. Aber es gibt unendlich viel zu entdecken. Die beste Zusammenfassung über Chile.

Wir machen uns nun auf nach Cochamo. Von zwei Menschen hören wir schon: der schönste Ort der Welt.

Auf der Carretera Austral

Wenn man von Argentinien wieder nach Chile möchte, steht einem ein Abenteuer bevor. Das ist irgendwie klar. Ist nur die Frage, wie ist aussieht. Diese Landverbindung wurde erst in dieser Saison wiedereröffnet, nachdem sie während Covid stillgelegt war. Wenn man aus südlicher Richtung kommt, nimmt man die erste Fähre über den Lago del Desierto und findet auf der Nordseite des Sees den argentinischen Grenzposten. Danach schwingt man sicher eher nicht auf den Sattel, sondern lernt das Fahrrad mal aus einer anderen Perspektive kennen. Für sieben Kilometer geht es (meist leicht bergauf) durch den Wald und über Stock und Stein. Dann mitten im Nirgendwo jeweils ein Schild, das einen in Argentinien oder Chile willkommen heißt. Da wird klar, dass man gerade eine internationale Grenze übertritt. Wir bereiten ein schnelles Mittagessen mit einer verbliebenen Zucchini vor – diese darf nämlich nicht nach Chile eingeführt werden. 

Während des Mittagessens kommt plötzlich verschwitzt und schwer atmend ein Mann mit schwerer Tasche auf dem Rücken angerannt. Es stellt sich heraus, dass er einer der beiden Kapitäne der zwei Fähren über den Lago O’Higgins ist. Er teilt uns mit, dass die Abfahrt der Fähre, welche für Montag Vormittag geplant war, wetterbedingt nun auf Samstag Abend vorverlegt wird. Glück für uns. Wie wir vor allem in den kommenden Wochen so mitbekommen, ist die Situation mit den Fähren nämlich gar nicht so planbar. Die kleinen Boote können nur bei guten Bedingungen fahren und wahrscheinlich gibt es keine Woche im Jahr in der sie mal durchgehend nach Fahrplan verkehren. Zeitweise warten vor allem auf der Nordseite des Sees (von Norden nach Süden ist aufgrund der Winde die beliebtere Reiserichtung) bis zu 30 oder 40 Rad- und Fußreisende auf die Überfahrt. Na ja wir sitzen also noch am gleichen Abend in der zweiten Fähre und können uns glücklich schätzen, dass wir nicht irgendwo mittendrin gestrandet sind. Zudem werden uns ja auch noch 1,5 Tage geschenkt. Oder? 

Als wir abends um 21.30 Uhr dann am Hafen von Villa O’ Higgins ankommen, realisiert Anne, dass die spontan frühere Ankunft für ihre Schuhe wohl zu schnell war. Wir stellen also fest, dass sie noch auf der anderen Seite des Sees liegen, an einem Ort an dem außer einer Farm und der chilenischen Grenzpolizei nichts ist. Und an einem Ort, der in den nächsten Tagen erst einmal nicht erreichbar ist, da das Wetter ja umschwingt. Wir gehen schon verschiedene Szenarien durch, wie wir Tage lang auf die Schuhe warten müssen und die Grenzpolizei benachrichtigen müssen, als sich dann durch Zufälle ergibt, dass die Schuhe ihren Weg nach Villa O’Higgins noch am selben Tag wie wir gemacht haben! Ein deutsch-uruguayischer Backpacker hat sich noch an Annes Schuhe erinnert und sie auf gut Glück mit der zweiten Fähre, die am Abend zuvor auch noch abgelegt hat, mitgenommen.  Nach ein wenig Detektivarbeit in Villa O’Higgins finden wir ihn und die Schuhe wieder und finden uns wenig später Mate trinkend über die Welt philosophierend  vor mit ihm und seinen australischen Mitstreitern.

So können wir uns also dann schließlich doch auf den Weg machen. Die ersten Etappen auf der Carretera Austral erinnern an einen Regenwald. Dazu zwitschert, plätschert und raschelt es überall. Nach jeder Kurve und jedem kleinen Hoch und Runter gibt es etwas neues zu sehen. Im Kontrast zur weitläufigen, flachen argentinischen Pampa ein willkommener Kontrast. Umso erstaunlicher, dass nur 150km Luftlinie dazwischenliegen… 

Da Anne ein Arbeitsmeeting hat und wir dafür Internet brauchen, fahren wir in 3 Tagen 280km und 7.000 Höhenmetern auf Schotterpiste bis nach Cochrane. Der Pausentag ist vor allem für den Po daher bitter nötig. Nebenbei nutzen wir ihn zum Wäsche waschen und Besorgungen für die Weiterreise. Und natürlich wird den ganzen Tag gegessen. Wir sind gerade im Tankmodus. In den letzten sieben Wochen haben wir schon knappe 5kg Erdnussbutter verdrückt – der beste Treibstoff! Abends führen wir mit Thomas, unserem Schweizer Reise-Rad-Kletter-Freund ein Gespräch über Milliardäre, die schon anfangen, sich Grundstücke auf dem patagonischen Eisfeld zu sichern, um sich Wasser für die Zukunft zu sichern. 

Wir fahren weiter nach Villa Cerro Castillo. Noch einmal 200 km auf der Schotterpiste, die schönen Landschaften entschädigen. Und nette Begegnungen schenken ein bisschen Glauben an Solidarität und Nächstenliebe zurück. Zum Beispiel warnt uns ein Herr auf seiner Obstwiese, wo wir ungefragt schlafen wollten, dass wir wegen des Hantavirus vorsichtig sein sollen und bringt uns gleichzeitig heißes Wasser mit und bietet uns noch an, Früchte zu pflücken. Ein anderer hält an und schenkt uns ein Radler und erzählt uns, dass er die Strecke schon vor 15 Jahren gefahren ist. Wir wollen gar nicht wissen, wie die Straße dort ausgesehen haben muss. Die letzten 15 km vor Villa Cerro Castillo wechselt sich dann der Untergrund von Schotter zu Asphalt – da kommen Glücksgefühle auf. Vor allem wenn man die lange Abfahrt durch gigantisches Panorama darauf genießen kann. Die folgenden 3,5 Tage in Cerro Castillo verbringen wir mit Klettern und treffen auch Thomas wieder. 

Nach einer weiteren Tagesetappe, die wir vor allem dank einer geschenkten Packung Kekse überstehen, kommen wir in Coyhaique an. Das ist nun nach 7 Wochen und ca. 1400 zurückgelegten Kilometern die erste 50.000 Einwohner Stadt. Schnell fühlt man sich fremd. An einem Samstag Abend kommen wir an und man fährt an so vielen Läden vorbei, die Dinge verbrauchen, deren Funktionalität und Nutzen fragwürdig sind. Das minimalistische Radreisen zeigt einem ja das extreme Gegenteil. 

Wetterbedingt gönnen wir uns auch ein Dach über dem Kopf – für den darauffolgenden Tag sind Windgeschwindigkeiten bis zu 100km/h und starker Regenfall vorhergesagt. Bevor der Weltuntergang einsetzt, erlebt Anne ihren eigenen kleinen Weltuntergang. Nach einer kurzen Kletterei an einer Testkletterwand vor einem Outdoorladen fällt Anne neben die Matratze auf die Holzpalette und verstaucht sich das Handgelenk. Glück im Unglück. Nichts gebrochen, aber die Weiterfahrt wird erstmal nach hinten verschoben. Nach drei Tagen Pause und dem Kauf einer Schiene sind wir jetzt wieder auf der Straße. 

Bei dem Regen im Überfluss ist es schwer vorstellbar, dass Chile eines der Länder ist, welches weltweit am stärksten von Wasserstress betroffen ist. Das heißt, mehr Wasser wird verbraucht als auf natürlichem Wege im Land verfügbar ist. In der Mitte und dem Norden des Landes herrscht seit 10 Jahren eine Dürre, die Privatisierung von Wasser macht die Situation noch schlimmer. 80% des Wasserverbrauches sind auf die exportorientierte Landwirtschaft zurückzuführen. Ausgetrocknete Seen, abgestorbene Bäume und eine braun-graue Farbpalette. Nebenan die grünen Avocado-Plantagen, die Güter für den Export produzieren. Der landwirtschaftliche Export kollidiert mit dem Menschenrecht auf Wasser für die lokale Bevölkerung. Tatsächlich geht die Reform auf Augusto Pinochet zurück. 1973 leitet er mit einen Putsch in Chile eine 17-jährige Diktatur ein, das zuvor eine sozialistische Demokratie war. Wir erfuhren noch in Santiago de Chile, dass unser Vermieter des AirBnbs, Hugo, verjagt wurde, als Professor für Architektur an der Universität von Santiago. Durch Argentinien und Kolumbien gelang es ihm später in Frankreich Asyl zu erhalten und er kehrte später zurück. Die sozialdemokratische Regierung vor Pinochet realisierte Reformen von einer anderen Zeit – Reformen, vor ihrer Zeit, von feministischer Gleichberechtigung bis hin zur gesetzlichen Krankenversicherung und Bildung für alle. All dies wurde mit Pinochet zu Nichte gemacht. Eine Universitätsbildung ist vergleichbar teuer wie in den Vereinigten Staaten, Wasser-, Land- und sogar Nationalparks werden reihenweise privatisiert und eine staatliche Krankenversicherung gibt es nicht. Der Putsch wurde gemäß Henry Kissinger durch die Vereinigten Staaten heraufbeschworen, indem sie „die größtmöglichen Voraussetzungen“ schaffte. Wieso? Die sozialdemokratische Regierung von Salvador Allende, ein Arzt, war den Amerikanern zu kommunistisch. Falls einem noch mehr solcher Geschichten einfallen, der möge uns gerne seinen Favoriten mitteilen. Die Diktatur von Mobutu in Kongo folgt einem schrecklich ähnlichen Muster, wobei hier die USA zusammen mit Belgien kräftig mitgeholfen haben ein demokratisches Kongo niederzureißen und Mobutu aktiv bei seinem Putsch unterstützt haben.

Heute ist Chile eine konservativ geprägte Demokratie. Den Schatten der Diktatur haben sie bis heute nicht abschütteln können. Milliardäre aus dem Ausland können sich uneingeschränkt die Ressourcen des Landes sichern, auf Kosten der Chilenen. Die Dürre wirkt als Brandbeschleuniger. Unter diesem Voraussetzungen ist nur eine Frage der Zeit bis die letzten Wasserspeicher aufgebraucht sind und – ja genau, die Avocadoproduktion einbricht und die weltweite Avocadoversorgung einbricht. Eine Katastrophe.

Der schönste Arsch der Welt

In einer zwei Tagestour sind wir von El Calafate nach El Chaltén gefahren – 225km. Der erste Tag durch die Pampa war noch weitestgehend entspannt, wenn auch sehr lange. Wir kamen abends um 21 Uhr an einem Shelter von unserem Lieblingsverein AGVP an. Wie gewohnt mit Wlan und Strom mitten im Nirgendwo, frei zugänglich für jeden. Wir schliefen bis um 6 Uhr und fuhren 20 Minuten später ab. 90km waren übrig, nicht viel, aber der Wind bläst uns schon ab 8 Uhr entgegen und hört erst Tage später auf. Irgendwie schaffen wir die 90km nach 14 Stunden Fahrrad fahren noch am selben Tag mit einer grandiosen 6.5 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Irgendwie hat uns dieses Granitwunder um Fitz Roy, Poincenot und Cerro Torre am Radeln gehalten (die konnte man schon etwa 200km im Voraus sehen), denn die meiste Zeit war es weniger Radfahren, und mehr der Versuch nicht umzufallen, weil der Wind einen einfach umbläst oder in den Gegenverkehr drückt. Wir haben schon von mehreren Fahrradfahrern gehört, die einfach aufgehört haben und den Wind abgewartet haben. Wir haben natürlich durchgehalten, auch wenn sich Anne ein paar Fluchende Wörter gegen Mr. Wind nicht verkneifen konnte. Das hat die Antarktische Circumpolar Current (ACC) natürlich nicht davon abgehalten stets von Westen nach Osten durch die Drakestraße riesige Massen Wasser zu transportieren. Die wiederrum den südlichen Jetstream befeuern und einen konstanten mindestens 50km/h starken Wind mit sich bringt.

Na ja, das Ziel ist es auf jeden Fall Wert, diese Strapazen auf sich zu nehmen.  

El Chaltén ist als Militärbasis in den 80er gegründet worden. Hier begann der Grenzstreit zwischen Argentinien und Chile, der bis heute andauert. Die Grenze ist noch nicht definiert (seht ihr auch auf Google Maps) und El Chaltén war der Versuch Argentiniens Fakten zu schaffen und sich Fläche zu sichern und eine Art Grenzmarkierung aufzubauen. Um Menschen in diese harsche Umgebung zu locken (wo Orkane und eiskalte Temperaturen zur Tagesordnung gehören), musste der Staat hohen Sold und eine gute Rente versprechen. Eine Praxis, die der argentinische Staat wohl ein Wenig zu oft gemacht hat. Die Inflation ist bekanntlich in den letzten 22 Jahren um 40 000 Prozent gestiegen. 2008 wurde dann aus der Schotter- eine Asphaltstraße und wie Annes Professor einst sagte “wo ein Weg ist, ist auch Verkehr”, hat sich El Chalten schnell zum Paradies für Trekking, Bergsteigen und Co. entwickelt. El Chaltén ist nun ein Touristenwunder, mit veganen Restaurants, Kletter- und Yogarefugios und Sauerbrotbäckerein  und einer Ranch mit Schnitzeln größer als jeder Teller.

Zurecht. Der Parque Glacier Nacional ist voller Wunder. Ich erinnere mich nur, als wir den Circuit Huemueles gelaufen sind und über die riesige Gletscher am einem Ende des Tales blicken konnten, von den riesige Massen türkisfarbenes Schmelzwasser ins Tal flossen durch dicht bewachsenden Regenwald. Der nächste Pass führt direkt in das patagonische Eisfeld, wo der Kalbungprozess am Schmelzrand Tunnel und Brücken aus Eis bilden. 

El Chaltén ist bekanntlich das Kletter- Alpinismusepizentrum Argentiniens, oder sogar Südamerikas. Die Kletterjugend aus dem 1.500 Seelen Dorf ist argentinischer Meister, Klettern ist ein Hauptfach in der Schule. Wir trafen zum Beispiel zwei Japaner, die an ihrem ersten Tag direkt den Hauptturm Fitz Roy begangen haben. Eine fünf Tagestour. Zwei Tage Anstieg, einen halben Tag klettern, einen halben Tag abseilen (25 Stunden an der Wand sein) und zwei Tage zurückwandern. Das Wetter in El Chaltén ändert sich manchmal stündlich – alle Jahreszeiten innerhalb von 10 Minuten. Oben auf den Gipfeln manchmal noch viel schneller und der Gipfel produziert auch direkt Wolken, was schlechte Sichverhältnisse vor allem bei Nacht vorprogrammiert. Uns wurde mal gesagt, dass bei jedem guten Wetterfenster zwei Menschen sterben. Einen hinterbliebenen Kletterpartner treffen wir später noch. Sein Kletterpartner starb eine Woche zuvor an einem Steinschlag am Cerro Torre.

Nichtdestotrotz zieht der Fitz Roy uns ebenso in den Bann, wie die zahlreichen bekannten und unbekannten Kletterer. Die Japaner versuchen noch ein paar Tage später eine Erstbegehung an der Nordflanke des Bergmassivs. Das Risiko ist Teil des Reizes. Und das Warten auf gute Wetterfenster gehört in El Chalten ebenso dazu. 

Wir werden auch ohne lebensgefährliche Klettertour auf dem Circuit Huemul ordentlich durchgerüttelt. 120km/h Wind erwartet uns auf der zweiten Tagestour des Circuits. Entgegen der Warnung einiger Ranger begeben wir uns auf das steilste Stück der Wanderung mit einem Wind der sogar unseren Reisepartner aus Israel überschlagen lässt.

Wir mussten uns regelmäßig in die Hocke setzen, um nicht vom Pass geblasen zu werden. Hinzu kam, dass Anne Tage zuvor eine Lebensmittelvergiftung (vermutlich von einer vergammelten Tomate) erlitt und noch die meisten Nahrungsmittel abstieß, die sie zu sich nahm.

Geschafft haben wir es trotzdem.

Natürlich kam das Klettern in El Chaltén nicht zu kurz. Die Südamerikaner und ein paar Russen schwärmen: einige der besten Boulder Südamerikas und sie sind eindeutig erste Klasse! Wir treffen eine Gruppe, die uns enthusiastisch empfängt. Aber was erzähle ich, zum Klettern gab es immer offene Leute zu finden, zum Beispiel die Russin, die nach Buenos Aires ausgewandert ist und Wandmalereien in Restaurants von El Chaltén malt. Oder zum Beispiel die Chilenen Pepa, Marianne und Juan, die uns mit Freude zum Klettern eingeladen habe und wir uns für Bariloche oder Cajon de Maipu verabredet haben. Crash Pads kann man sich zwar ausleihen, aber zum Glück war es nie notwendig.

Ein paar Zwischenfälle, die sonst noch erwähnenswert sind:

  • Court hearing am Valentinstag. Unser Anwalt hinterfragt das norwegische Rechtssystem. Zivilen Ungehorsam sieht er als demokratisches Ventil an, dass milder bestraft werden muss. Er zitiert zudem Antonio Guterres, unseren Lieblingsaktivisten aus der UN. Die Welt erfahre eine Katastrophe biblischen Ausmaßes mit der Überschwemmung vieler Küstenstädte und ganzer Staaten. Es seien 1 Milliarde Menschen gefährdet. (Die letzte Rede des Generalsekretärs)
  • Eine Ratte frisst sich durch unser Equipment, gleich doppelt. Ich habe sie, da sie nicht gehen wollte mit einer Flasche erschlagen :/
  • Annes Kletterhelm wurde vermeintlich gestohlen. Dazu ging leider auch der Schildkrötenhut, der von Ella geschenkt wurde.
  • Mein Bewerbungsgespräch mit Harri aus Aalto war sehr erfolgreich. Ich werde in Aalto, Finnland, promovieren! 
  • Erster Multipitch mit Anne
  • Anne steigt eine 6b+ (fast) durch
  • Das Boulderprojekt, die Traverse, wird auf spätere verlegt, sowie die Besteigung des Fitz Roys.

Die Türme und die Pampa

(Bilder aktualisiert)

Wir melden uns mal wieder – diesmal aus Argentinien. Bei der Reise in den Norden passieren wir das Südpatagonische Eisfeld – eines der letzten drei verbliebenen auf unserem Planeten neben der Antarktis und Grönland. Da Chile sehr schmal ist und auf diesem Breitengrad das Eis in Chile unpassierbar macht, weichen wir über Argentinien aus. Das ist aber definitiv keine Plage.

„Arm und schön“ – so fasst es der Argentinier Sebastian, den wir in El Calafate auf dem Campingplatz kennen lernen ganz gut zusammen. Um die 60er Jahre herum hatte Argentinien noch eine vergleichbare Wirtschaftskraft wie eine europäische Länder. Einige Krisen lassen das Land aber mittlerweile weiter zurückfallen. War im Jahr 2001 ein Peso noch 1 US-Dollar wert, so entsprechen heute 380 Peso einem Dollar. Die Inflation beträgt derzeit 94% gegenüber dem Vorjahresmonat. Das Thema ist merkbar hochaktuell und das Land droht noch in diesem Jahr staatsbankrott zu gehen, was letztendlich die Bevölkerung und einfache Arbeiter zu spüren bekommen. Wir bekommen das nur am Rande mit, denn dem Tourismus, der ausländische Währung anzieht, geht es blendend. Aber zum Beispiel gibt es mehrere Fahrradläden nicht mehr, die uns auf iOverlander (brauchbare App hier) angezeigt werden – ein Geschäft, das oft nicht auf den großen Gewinn aus ist und es handelt mit einem Produkt, das die Argentinier aus der Pampa (=Süden) sich sowieso nicht leisten. Lieber fahren sie 200 Jahre alt erscheinende Klapperkisten mit Verbrennermotor durch die Gegend. Denn die Distanzen sind riesig und das Öl kommt aus argentinischen Haus (YPF) und ist spottbillig. Gerade mal einen halben Euro pro Liter.

Bezaubernd sind allerdings Landschaft und Leute. Der argentinische Teil Patagoniens befindet sich östlich der Anden. Die hier stark dominierenden Westwinde verlieren über den Anden ihren Niederschlag und prägen so die Pampa. Kilometerweites Nichts – mit wind- und trockenheits resistenten niedrigen Sträuchern versehen und herumstreunenden wilden Guanacos, Hasen, Füchsen und Vögeln. Die UV-Strahlung ist unglaublich stark und wird an Informationsstellen in dieser Zeit meist mit 11/11 angegeben.

Zurück zu den Türmen: Nach einer knappen Woche in und um Puerto Natales, in der Duc insgesamt vier Bewerbungsgespräche hatte, machen wir uns auf den Weg zum Nationalpark Torres del Paine. Der Besuch ist sehr reglementiert und da wir keine Reservierungen für Übernachtungen schon ein halbes Jahr im Voraus geplant haben, entscheiden wir uns für die Eintageswanderung zu den Base de los Torres. Dieser Plan entstand quasi in 2 Minuten. Wir entschieden, das Eco-Festival an der Laguna Sofía zu verlassen, und machten uns am Sonntag um 14 Uhr auf den knapp 90km langen Weg zum Torres. Proviant haben wir das letzte Mal am Freitag gekauft und wir waren nicht gewappnet auf die Tour, die uns erwarten sollte. 90km um 14 Uhr mit potenziell viel Gegenwind anzufangen ist eigentlich eine sehr schlechte Idee, aber wir machen es irgendwie. Um 23 Uhr sind wir an den Toren des Torres und schlafen ganze 3 Stunden in einem Busch. Um 2 Uhr nachts fuhren wir hinein, die Kasse hatte zu dieser Zeit schon geschlossen und wir legten uns in irgendein Dornenfeld, das nachts nicht ganz so gut erkennbar war. 5 Stunden später für ich (Duc) wie ein verrückter zum Willkommenszentrum des Torres del Paine und kaufte für 11 Euro Internet für 3h, damit ich um 8:00 ein weiteres Interview wahrnehmen konnte. Danach starteten wir die Tageswanderung, die doch eher sportlicher Natur war. Wir schliefen wie Steine, so dass Anne vergaß mir zu berichten, dass neben uns dutzende Flamingos in der Lagune standen. Auch der Grund, warum uns am morgen dutzende Touristen begafften, als wir langsam aufstanden, um unseren Weg nach Argentinien zu beginnen.

Wir fahren bei guten Rückenwind (wir fahren ja Richtung Osten mit Westwind im Rücken) über die chilenisch-argentinische Grenze. Am argentinischen Grenzhaus wird uns dann klar gemacht, dass wir noch einmal neun Kilometer gegen den Wind zurückfahren müssen, das wir ein Stück Papier vergessen haben an der chilenischen Grenze. Unter großem Ärger und ein/zwei (Freuden-) Tränen (Anne) fahren wir wieder zurück, holen und das Stück Papier und übergeben es auf argentinischer Seite dem Grenzbeamten. Welcher es dann in den Müll schmeißt. Und der Wind ist wirklich STARK. Hätte ich mir nicht erträumen können, muss man einfach erleben. Man fährt gegen eine Wand und freut sich, dass man nach einer Stunde 7km gemacht hat.

Die darauffolgenden drei Tage fahren wir bei starken Seiten- und Rückenwinden nach El Calafate. Unser Lieblingsfreund wird AGVP (ADMINISTRACIÓN GENERAL DE VIALIDAD PROVINCIAL – sowas wie die Straßenverwaltung). Im sonst so verlassenen Santa Cruz – diese argentinische Region hat eine Bevölkerungsdichte von 1 Person/ Quadratkilometer – stellen sie für viele Radreisende einen Zufluchtsort mit Wasser, Windschutz, Toilette, Strom und Internet dar. Alles, was auf einer Radreise im Nirgendwo zu einem bestimmten Punkt sehr existenziell wird. Sie laden einen sofort ein, dass man bei ihnen doch kochen und sich hinsetzen solle und nehmen in Hochzeiten bis zu 10 Radfahrer in ihrem Hof auf. Jedenfalls ging uns langsam aber sicher das Essen aus – es war Freitag und der letzte richtige Einkauf war eine Woche her, dazwischen gab es nur Kekse aus Cerro Castillo. Unser letztes Mittagessen vor El Calafate bestand daher aus Reis, dem ich noch etwas Butter hinzufügte.

Überrascht haben sie uns auch beim Campingplatz in Calafate, der für Bauarbeiter und Radfahrer (und andere verlorene Seelen) für knapp 3 Euro die Nacht, alles bietet. Der Strom fällt manchmal aus, das W-Lan funktioniert nicht immer, aber sonst ist alles Tip Top und sie haben den schlausten Windschutz eingerichtet, der gleichzeitig auch wunderschön aussieht – riesige 30m Hohe Pappeln, die den Wind auffangen und das Sonnenlicht in einen angenehmen Schattenteppich verwandelt.

Stinkige Begegnung: Wir wachen nachts auf, weil ein kleines Stinktier an unseren Sachen schnüffelt. Aus Angst, dass es seine stinkige Waffe einsetzt, wissen wir nicht so recht, wie wir den Gast wieder loswerden können. Zum Glück geht er kurz darauf selbst. 

Langsamster Abschnitt: An einem der vergangenen Fahrtage hat der Wind besonders stark geweht mit durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten von über 10m/s und entsprechend noch stärkeren Böen. Wir kommen in 2 Stunden nur circa 10 km voran. 

Ein Kampf für Klimagerechtigkeit: In meiner Zeit in Norwegen vor dieser Südamerikareise habe ich mich stark für Klimagerechtigkeit eingesetzt. Im Rahmen der Kampagne habe ich mich mit Stopp oljeletinga gegen die weitere Vergabe von Lizenzen zur Suche nach neuen Ölfeldern eingesetzt. In Folge einer Straßenblockade auf den Lofoten stehe ich am 30.01. vor Gericht – online zugeschaltet aus Argentinien. Mein Aufenthalt hier bestätigt für mich, wie wichtig es ist, hier und heute für Klimagerechtigkeit zu kämpfen. Europa lebt in einem Wohlstand auf Kosten von Menschenrechten anderer. Das müssen wir ändern. Macht mit – zum Beispiel durch eine Spende an Stopp oljeletinga!

Im wahrsten Sinne holprig

Seit mittlerweile fast einer Woche unterwegs haben wir es schon bis Puerto Natales geschafft. Leider nicht ganz mit den Verkehrsmittel, welches wir uns erhofft haben. Wir mussten für das Stück zwischen Punta Arenas und Puerto Natales auf den Bus umsteigen.

In den Tagen zuvor hat noch alles so ziemlich gut geklappt. Sehr spontan entscheiden wir uns nach der Ankunft in Punta Arenas noch die Fähre über die Magellanstraße zu nehmen. Duc mochte unbedingt Pinguine sehen (und Anne auch – nur eben ein bisschen weniger) und circa 100 km entfernt gibt es in der „Useless Bay“ die einzige Königspinguinkolonie auf dem Festland zu bestaunen. Da die Straße auf diesem Teil sehr holprig ist, und uns somit ein Tag auf holprigen Straßen mit starkem Wind, sowie ein Tag zurück bevorsteht, versuche wir unser Glück per Anhalter. Schon beim ersten Auto haben wir Glück und wir werden von einem deutschen Reisetrio mitgenommen. Die Pinguine sind faszinierend und ziemlich imposant. Sie werden seit 2011 durch das Naturreservat geschützt – man muss sich mal vorstellen, dass bis zuvor Touristen versuchen, Pinguine zu schnappen, um sie in ihr Auto zu packen.

Wir kommen wieder spät in Punta Arenas mit der Fähre an. Als wir schnell das Zelt für die Nacht aufbauen wollen, bricht eine Zeltstange, weil Duc sie aus Versehen nicht richtig zusammensteckt. Da es mittlerweile 23.30 Uhr ist, schlafen wir einfach ohne Zelt und suchen am nächsten Tag nach einer Lösung.

Das ist ja meist das schöne an solchen Situationen. Die eigene Hilflosigkeit bringt nette Begegnungen hervor mit Menschen, die bedingungslos ihre Arbeit für einen kurzen Moment stehen und liegen lassen, um weiterzuhelfen. So auch mit unser improvisierten Lösung für die Zeltstange. Drei Jungs von der Ferreteria (sie haben sehr viele Rohre dort) sägen uns schließlich ein Stück, welches von nun an als Schiene dient. Zelt wieder repariert.

Und Ducs Fahrrad? Wir haben es ja gebraucht in Santiago gekauft. Es sah ganz brauchbar aus, aber von einer Noname Marke. Als wir Punta Arenas Richtung Puerto Natales verlassen, fängt Alfredo (besagtes Fahrrad) an zu streiken. Die Hinterachse ist Metallsalat, also komplett zermürbt und die Kettenblätter schräg und quasi lose. Wir rollen zum Flughafen zurück, was immerhin 5km waren. Die letzten Meter für Alfredo und trotz zerstückelter Hinterradachse fährt er sich noch irgendwie zu seinem letzten Ziel. Die Entscheidung ist dann schließlich: Fahrrad zurücklassen, Anne fährt nach Punta Arenas zurück, weil sie dort mit dem Fahrrad den Bus nehmen wird und Duc steigt am Flughafen zu. So landen wir noch am Abend in Puerto Natales. Das spart uns auch eine Menge Seiten- und Gegenwind. Wenn es hier eine Konstante gibt, dann ist es der Wind.

In Puerto Natales finden wir dann ein neues Fahrrad, wir taufen es Don Carlos. Ein Mountainbike, dass sowohl Ducs Fahrstil (pff. – Kommentar von Duc) als auch den Straßenverhältnissen gerecht wird. Nach einem informativen Nachmittag im Radladen, machen wir uns noch am Abend auf den Weg zur Laguna Sofia. Ein wunderschöner See umgeben von Bergen und Steppenlandschaft. Wir klettern am nächsten Tag eine Route, bekommen Gebäck von anderen Campern geschenkt und können anhand der Lautstärke der Wellen erahnen, wie stark der Wind gerade bläst.

Da Duc ein paar Bewerbungsgespräche hat, halten wir uns in den nächsten Tagen vor allem in und um Puerto Natales auf.

Wir befinden uns ein bisschen im Zweispalt, wenn wir von den erschreckenden Nachrichten aus Lützerath hören. Wären wir in Europa, würden wir zu diesen Zeiten unsere Solidarität mit den Demonstrierenden zeigen und wahrscheinlich dabei sein. Das geht nunmal nicht, wenn man 13.500 km entfernt ist. Umso schockierender die Nachrichten zu lesen und sehen, die einen ein bisschen den Glauben an Politik und Rechtsstaat verlieren lassen. Auf der anderen Seite merke ich (Anne), wie diese Reise mir wieder dabei hilft, den Glauben an die Menschheit zurückzugewinnen. Sei es durch das freudige Hupen von vorbeifahrenden Autofahrenden, die bedingungslose Hilfe die wir in jeder danach suchenden Situation bis jetzt gefunden haben oder die offenherzige Gastfreundschaft.

Wütendster Moment: Übermüdet beim Aufbau des Zeltes zu realisieren, dass die Zeltstange nun gebrochen ist, und sie innerhalb der nächsten 20 Minuten auch nicht mehr reparierbar ist.

Netteste Begegnung: Am ersten Abend in Puerto Natales lernen wir Tomás beim Bouldern kennen. Er arbeitet als Kletterführer und ist sofort offen und humorvoll. Wir wollen am Sonntag eigentlich zusammen klettern, aber er hat am Tag davor ein Konzert und ist daher nicht so ganz in Form 😀 Aber wir haben vielleicht noch ein paar Möglichkeiten 🙂

Leckerste Neuentdeckung: Wir essen, weil es so gut ist, vier mal hintereinander Nudeln mit Soja-Hack und Tomatensoße (wahlweise anderes Gemüse).

¡Hasta Luego, Santiago de Chile!

Wir haben nach dem Straßenkampf beim Plaza de Armas entschieden, ein etwas sicheres Viertel aufzusuchen, wo die 30°C Sonne nicht nur den Uringeruch in die Höhe befördert, sondern auch die Müllberge direkt zu Kompost verwandelt.

Außerdem wollten wir nicht immer mit Angstschweiß bedeckt den Heimweg antreten. Es ist auch leider wenig übertrieben, denn scheinbar weiß jeder außer wir, dass man um 23 Uhr im Zentrum nicht mehr durch die Straßen laufen sollte. Entsprechend leer ist es und keiner ist da, der, falls man überfallen wird, einem zumindest unterstützende Blicke zuwerfen kann, so dass man nicht direkt abgestochen wird.

Wir schliefen also bei Hugo und Andrea (und Lukas, Suki und Sarah) für die nächsten 7 Tage, um die Dinge vorzubereiten, für die wir hier angetreten sind: die Hochzeit von Marcela und Bogdan und die Fahrradreise durch Patagonien.

tägliches Erwachen der Anden. Sicht: aus unserem Fenster

Nun zuerst zur Hochzeit. Marcela und Bogdan haben eine unglaubliche Hochzeit auf die Beine gestellt. Alles war bis auf das kleinste Detail durchdacht und wir mussten uns quasi nur schick machen. Haben wir dann getan, mit Friseurbesuch und Schuhkauf. Bilder sagen hier in diesem Fall mehr als Worte. Viel Liebe an Marcela und Bogdan an dieser Stelle ❤

Nach zahlreichen Pisco Sours ging das dann für ein paar Stunden

Die Fahrradreise: Nach einiger Recherche und liebevoller Unterstützung haben wir für Patagonien alles zusammen. Die beste Ausstattung, ein Gravelbike für 2000 Euro und eine Lebenversicherung. Zu dem eine 3000km detaillierte Fahrradroute, in der mehrere Worst-Case Scenarios mit Alternativen abgesichert sind… habe ich ungefähr meinen Eltern erzählt. In Wirklichkeit sind wir vielleicht nicht ganz so organisiert unterwegs — wie sich herausgestellt hat, ist das mit Duc auch einfach schwer bis unmöglich möglich. Er hat sich ein Secondhand Rennrad geholt, das zwar etwas dickere Reifen hat, aber die Gabel zu kurz ist für den 28 Zoll Reifen. Nach dem Kauf mussten wir auch erst mal zur Werkstatt, weil die Hinterachse getauscht werden muss. Ein Gepäckträger war auch nicht dran und bei den Bremsen funktioniert auch eher nur die eine. Oder keine.

Ansonsten ist eine der erstklassischen Vaude Fahrradtaschen gerissen und ich habe nach eins, zwei Stunden Klebversuch ein Déjà Vu – meine Finger sind komplett mit Sekundenkleber verklebt und die Tasche hatte immer noch ein dezentes Loch. Erste Erfahrungen mit Sekundenkleber im gewohnten Gebrauch und das Resultat ist genauso wie beim Klimaaktivismus. Das einzige was bleibt ist Kleber an den Händen. Nun, wir entscheiden uns später, einfach nur Dinge in die Tasche zu legen, die nass werden können. Also die Yogamatte und die Essensboxen..

Der Plan für die ersten Tage des Radtrips sehen auch eher spontan aus. Aber Pinguine und Klettern stehen auf der Wochenliste. Probleme auf diesem langen Weg sind mit Duc quasi garantiert. Aber dafür schätze ich ihn auch ein bisschen. Auf jeden Fall, das Vagabundenleben hat Abenteuer vorprogrammiert und ich hoffe ihr bleibt gespannt dabei.

Mit Hugo und Andrea haben wir ein kleines WG Leben etabliert. Duc hat Banh Xeo gemacht, und wir haben zuvor in Vega die Zutaten gekauft. Vega ist eine Markthalle mit Tomatenpyramiden, Avocadobergen und Ananasketten wo das Auge hinfällt und Latino Musik im Hintergrund. Die Preise sind alle 1/3 von den Supermarktpreisen und ich frage mich, warum man überhaupt jemals zu einem Supermarkt gehen möchte, wenn man dort, nach Vega, gehen kann.

Morgen um 2:30 Uhr geht es dann nach Punta Arenas. Juhu!

P.S. das ganze sieht zwar aus als hätte, Ich, Anne das geschrieben, aber eigentlich war es Duc.

Ich wollte ja niemanden den Blog klauen.

Familiärster Moment der Woche: Marcelas Papa kommt während der Hochzeit extra vorbei, um sicher zu stellen, dass Anne einen veganen Mitternachtssnack bekommt. Und bringt noch die übrig gebliebenen Früchte vom Dessert vorbei. (Und generell die bedingungslose Aufnahme von Marcela und ihrer Familie <3)

WG Moment: Die vergangene Woche in einem deutlich ruhigeren Viertel der Stadt führte uns ja wie erwähnt in eine kleine WG: neben Hugo und Andrea, ihren vielen Vierbeinern ist auch Kawey mit uns eingezogen, die im Rahmen ihres Studiums in der chilenischen Hafenstadt Concepcion für zwei Wochen in Santiago ist. Es entstehen viele schöne Momente bei diesem Zusammenleben, die definitiv zu unserem unvergesslichen Santiago Aufenthalt beitragen.

Zweitschönste Begegnung: Ein Freund aus Trondheim leitet uns den Kontakt des Bruders seines Bruders Frau (haha ja das lassen wir mal so stehen) Joaquin weiter, welcher in Santiago wohnt. Wir treffen uns auf ein Bier und merken schnell, dass wir auf einer Wellenlänge sind. Begeistert von der Schönheit Patagoniens bei seinem letzten Trip ist er so motiviert und stellt uns einfach so einen siebenseitigen Reiseführer zusammen.

Traurigster Moment der Woche: Das Lesen einer Kolumne der Zeit bringt uns auf dieses Video. Der (nicht nur) in Nigeria sehr bekannte Rapper Burna Boy hat diese 16-minütige Dokumentation produziert, um auf die Missstände in seinem Heimatland aufmerksam zu machen. In der Hafenstadt Port Harcourt wurde vor einigen Jahrzehnten ..na was… Öl entdeckt. Zum Fluch des Landes und seiner Einwohner. Menschen husten schwarzen Atem und bekommen schwarze Hände beim Türe öffnen. Und das Land erlebt mittlerweile schon die tragischen Auswirkungen unserer westlichen Sucht nach fossilen Energieträgern.. Hier das Video: https://www.youtube.com/watch?v=YzbHv6_zOFU

Von einer langen Anreise und einem kurzem Silvester

¡Hola y feliz Año Nuevo!

Wir sind angekommen und haben mittlerweile schon den ersten Sonnenbrand und ein neues Jahr. Aber noch einmal von vorne…

Angefangen hat unsere Reise am Donnerstag früh morgens. Duc steigt um 4.50 Uhr in Frankfurt in den Flixbus ein. Anne kommt um 6.30 Uhr in Karlsruhe nach. Vor uns liegen noch weitere 27 Stunden Busfahrt durch Frankreich und Spanien bis Madrid.

Hintergrund ist, dass wir die enormen ökologischen Auswirkungen des Fluges durch den Direktflug ab Madrid so gering wie eben möglich halten möchten. Daher die Entscheidung mit dem Flixbus den Landweg in Europa vorzunehmen. Wir sind froh mit all unserem Gepäck nun angekommen zu sein, denn zwischendrin konnte man schnell dran zweifeln.

Unser spanisches Busfahrertrio hat sich auf der ganzen Fahrt sehr rührend um alle Schäfchen im Bus gekümmert. Jedes Mal durchgezählt ob nach der Pause alle da sind, und sich generell stark bemüht, dass jeder einen guten Platz hat. Die Busfahrer im öffentlichen Nahverkehr in Madrid hatten da weniger Mitleid. Als sie uns mit dem Fahrradkarton und dem großen Seesack im Gepäck sehen, schließen sie wieder die Türen. Mit der Metro hatten wir dann mehr Glück.

Die Idee für die Reise wurde ausgelöst durch die Hochzeit guter Freunde aus Trondheim. Marcela ist Chilenin, Bogdan aus Rumänien. Die beiden haben während der Pandemie im kleinen Kreis in Rumänien geheiratet, aber chilenische Familien lassen sich diesen Anlass für ein großes Fest nicht entgehen. Wir werden von Bogdan abgeholt und sehr gastfreundlich empfangen in Marcelas Elternhaus. Es gibt Marquetta mit Avocado – beides typisch chilenische Speisen, die mindestens einmal am Tag verzehrt werden.

Am Flughafen konnten wir dann schließlich problemlos das Gepäck loswerden und so zu einer kleinen Bouldereinheit in Madrid aufbrechen. Ein guter Ausgleich für den darauffolgenden 13,5 Stunden Flug nach Santiago de Chile. Zwischen Chile und Mitteleuropa sind derzeit 4 Stunden Zeitverschiebung. Wir fliegen über Nacht und landen um 9.20 Uhr nach chilenischer Ortszeit.

Am Tag unserer Ankunft regnet es. Leicht. Jede Person mit der wir reden versichert uns, dass das eine große Ausnahme ist. Normalerweise ist es im Sommer hier 3-4 Monate trocken und heiß. Da ist kein Platz für Regen. Bogdan war schon acht mal in Chile während des Sommers und das war das zweite Mal, dass er Regen erlebt. Für uns, die wir aus dem Winter kommen, ist dieser Tag allerdings ein angenehmer Übergang.

Wir verbringen unsere ersten zwei Nächte in einem AirBnb in der Innenstadt. Kein Fehler, aber eine Erfahrung. In den letzten Jahren findet in Chile ein großer Um- und Aufbruch statt. Dieser passiert vor allem in der Innenstadt. Graffiti, Müllberge, imposante Gebäude, Palmen, Armut und Representation reihen sich aneinander. Im neuen Jahr schaffen wir es nur 15 Minuten wach zu bleiben, da die letzten drei Reisetage unsere Lider schwer machen. Anne wacht später in der Nacht auf, weil sie von lautem Geschrei geweckt wird. Offensichtlich ein Straßenkampf, der Vermieter unserer Unterkunft versuchte die Polizei zu rufen, aber kein Erfolg da wohl wegen Neujahr die Kapazitäten geringer waren.

Am Nachmittag des 1.Januar sind wir bei Marcela zum Grillen eingeladen. Viele ihrer Familienmitglieder sind auch dabei. Ein schöner Start ins neue Jahr!

Hier noch weitere Eindrücke der letzten Tage. Wir freuen uns auf mehr!

Gerichtstermin vor der Abreise

Wir starten am Dienstag Nachmittag auf unsere Radreise auf die Lofoten. Wir, das sind Leon, Lena, Duc und ich. Ich habe die drei im letzten Jahr zuerst durch Extinction Rebellion und dann durch die Kampagne Stopp Oljeletinga! kennen gelernt. Leon und Lena studieren in Graz, und Duc hat seine Masterarbeit im Erasmussemester aus Aachen fertig geschrieben. Im Juni haben wir noch alle an den Aktionen von Stopp Oljeletinga! teilgenommen, zu deren Vorbereitung wir alle in den letzten Monaten beigetragen haben. Dazu möchte ich noch kurz ausholen.

Im Juni haben wir in Trondheim an verschiedenen Orten und Tagen insgesamt 5 Straßenblockaden durchgeführt, um durch gewaltlosen zivilen Widerstand die Forderungen der Kampagne an die norwegische Regierung in die Öffentlichkeit zu bringen. Diese lauten:

1. Der Stopp der Vergabe weiterer Lizenzen zur Suche nach neuem Öl.

2. Ein fairer Übergang der betroffenen Arbeitsplätze aus dem Sektor.

Die gewählte Taktik hat Wirkung gezeigt. Die Blockaden, welche zwischen 10-20 Minuten andauerten, bis die Polizei kam und die Demonstrierenden von der Straße entfernte, sorgten für viel Aufmerksamkeit in den norwegischen, landesweiten Medien. Politische Debatten, Fernsehbeiträge, Zeitungsartikel, Social Media Beiträge, Leserbriefe: Norwegen fängt an über das zu sprechen, was seit Jahren notwendig und nun überfällig ist. Wie kann die Suche nach weiteren Ölfeldern noch moralisch vertretbar sein, wenn Wissenschaft und internationale Gremien oder schlichtweg der Zustand des Planeten deutliche Hilferufe versenden?

Die Polizei hat nach den Festnahmen den weiteren Prozess dieses Falles sehr beschleunigt und so standen 12 Demonstrierende am 29. Juni vor dem Trondheimer Gericht. Ich wurde angeklagt, zum einen für die Unterbrechung des Verkehrs und zum Anderen für das Nicht-Folge-leisten der Anweisungen der Polizei. Ursprünglich hat sich die dadurch ergebende Geldstrafe auf 30.000 Kronen (~3.000€) belaufen. Vor Gericht, welches für die deutschsprachigen unter uns extra vom norwegischen ins Deutsche übersetzt wurde, hatten wir auch die Möglichkeit, uns zu verteidigen. Für mich und auch die anderen in der Gruppe ein historisches Ereignis: die Möglichkeit, unsere Beweggründe und die Dringlichkeit der Lage auch vor Gericht darzulegen. Und dabei auch an die Verantwortung der Gerichte zu appellieren, welche das Grundrecht schützen.

Wir setzen uns nicht aus Spaß auf die Steaße, verbringen mehrere Stunden im Arrest oder vor Gericht. Es ist vielmehr eine Handlung aus Verzweiflung, aber auch Hoffnung, dass dies der derzeit polarisierendste Weg ist, die politische Tagesordnung auf die relevanten Debatten zu fokussieren. Und selbst eine Kommission der norwegischen Regierung hat die weitere Ölexploration für verfassungswidrig erklärt.

Vor einer Woche, einen Tag vor unserer Abfahrt haben wir das Gerichtsurteil verkündet bekommen. Wir wurden für schuldig erklärt, das Gericht erkennt unsere Beweggründe jedoch an. Meine Strafe wurde von 30.000 NOK auf 19.000 NOK reduziert. Die Aufmerksamkeit in den Medien geht weiter und die Hoffnung keimt immer stärker auf, dass die Kampagne in einem nächsten Aktionszeitraum im Herbst größer und lauter und somit auch politischer wird.

Diese Kampagne kostet Geld: Materialien, Essen, Rechnungen für Flyer, Plakate etc. Von den Strafen ganz abgesehen. Derzeit wird es so aussehen, als würde ich die Strafe alleine abdecken müssen. Um weiter machen zu können, sind wir auf Fundraising und Crowdfunding angewiesen. Wenn ihr also auch die Kampagne unterstützen wollt, dann schaut gerne hier vorbei: https://gofund.me/60453ec4

Jedenfalls, nachdem das alles gesagt ist, können wir uns ja auf den Weg auf die Lofoten machen. Circa 1.000 km auf dem Rad entlang des Eurovelo 1, der Nordatlantischen Küstenroute liegen vor uns. Im nächsten Beitrag berichte ich dann weiter vom Start der Reise durch den norwegischen Regen…

Wie es begann… Stopp Oljeletinga!

Seit August 2021 studiere ich meinen Master in Norwegen. Der Aufenthalt in diesem Land prägt mich in vielerlei Hinsicht, ich lerne und genieße viel. Eine Sache, welche mich hier in Norwegen auch von Anfang an begleitet, ist der Klimaaktivismus. Ich möchte dazu im folgenden Beitrag ein bisschen ausholen…

Schon lange vor meinem Bachelorstudium im Fach Umwelttechnik habe ich mich mit Nachhaltigkeit, einem fairen Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen und innovativen Lösungen zu den erwartenden Klimawandelfolgen auseinandergesetzt. Ich ernähre mich nun schon länger vegan, kaufe Hafermilch und feste Seife, vermeide das Flugzeug, engagiere mich in diversen Organisationen und versuche meinen persönlichen CO2-Fußabdruck so gering wie möglich zu halten. So gering, wie er sein müsste, kann er für mich als in Deutschland/ Norwegen lebende Person aber gar nicht sein. Unser System verträgt sich einfach nicht mit den Grenzen unseres Planeten. Ich bin frustriert von den schleppenden (politischen) Veränderungen, persönlichen Anfeindungen wenn ich vielleicht mal Jogurt esse und der Übertragung der Verantwortung auf das Individuum. Mit Bambuszahnbürste und Elektroauto allein kaufen wir uns leider keine lebenswerte Zukunft. Und mittlerweile habe ich Angst. Angst vor den Zuständen, auf die sich unser Planet zubewegt und in denen er sich schon befindet. Angst vor der Zukunft: meiner, deiner aber vor allem der der nächsten Generationen.

Viele wissenschaftliche Veröffentlichungen, allen voran der neueste und sechste Sachstandsbericht des IPCC (IPCC, 2022) machen (schon lange) auf die katastrophalen Zustände aufmerksam. Ausreichend gehört und umgesetzt wird allerdings nichts. Die folgenden Zitaten verdeutlichen dies:

  • It is a file of shame, cataloging the empty pledges that put us firmly on track toward an unlivable world,“ sagt Antonio Guterres zu den Enthüllungen des IPCC Reports (CBC, 04.04.2022).
  • Schon im Jahr 2021 sagt Fatih Birol, Executive Director der International Energy Agency, 18th May 2021.“If governments are serious about the climate crisis, there can be no new investments in oil, gas and coal, from now – from this year.”
  • Im Jahr 2022 sind das dann noch 2-3 Jahre… Professor Sir David King, former UK Government Chief Scientist, February 2021: “What we do in the next 3 to 4 years will, I believe, determine the future of humanity” 
  • The scientific evidence is unequivocal: climate change is a threat to human wellbeing and the health of the planet. Any further delay in concerted global action will miss a brief and rapidly closing window to secure a liveable future,” sagt Klimaforscher Hans-Otto Pörtner. (IPCC, 28.02.2022)

Im April bin ich daher nach Oslo gefahren, um auf Öllastwagen zu klettern und dabei Verhaftungen zu riskieren. Ich saß sechs Mal in einem Polizeiwagen und war zwei Mal in Polizeigewahrsam. Diese friedlichen Aktionen des zivilen Ungehorsams waren Teil der internationalen Kampagne „Stopp Oljeletinga!“(dt: Stoppt die Ölexploration!). Diese fordert von der norwegische Regierung die sofortige Beendigung der Lizenzierung weiterer Explorationsprojekte für fossile Brennstoffe. Außerdem einen fairen Übergang der betroffenen Arbeitsplätze im Sektor. Ehrlich gesagt, sollte das logisch sein. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres betont, die gefährlichen Radikalen seien nicht die Klimaaktivisten, sondern die Regierungen, die weiterhin fossile Brennstoffe finanzieren. Wie kann es Norwegen also vertreten nach NEUEM Öl zu suchen, dessen Förderung in 15 Jahren zu erwarten ist?


Mir ist bewusst, dass die Auseinandersetzung mit Klimaaktivismus stark mit meinen Privilegien verbunden ist (danke Mama und Papa <3). Ich habe die finanziellen Mittel, um eine höhere Bildung zu genießen, mich gesund zu ernähren und mich nun auch an diesen teuren Formen des Protests zu beteiligen. Ich leide nicht unter rassistischen Anfeindungen oder anderen Formen von Diskriminierung aufgrund meiner Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht. Dieses Privileg bedeutet auch, dass ich von den katastrophalen Veränderungen, die das IPCC vorhersagt, weniger betroffen sein werde als die meisten anderen. Und ganz zu schweigen von den Generationen, die nach mir kommen. Daher möchte ich dieses Privileg nutzen, mich für jene einzusetzen, die es nicht haben. Wenn ich es nicht tue, wer wird es dann tun?
Ich möchte mich nicht am zivilen Ungehorsam beteiligen. Ich klettere lieber am Fels als auf Öllastwagen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit mehr. Historisch gesehen war gewaltfreie direkte Aktion das effektivste demokratische Instrument, um notwendige systemische Veränderungen zu erreichen (siehe Freedom Riders in den USA, Suffragettes in den UK, und viele weitere), und es ist die einzige Option, die uns noch bleibt.

Im Juli fahre ich mit dem Fahrrad und einem guten Freund Leon, mit welchem mich viele Dinge wie unter anderem der Klimaaktivismus verbinden, auf die Lofoten. Unsere Reise könnt ihr hier nachverfolgen. Da Klimaaktivismus ohne finanzielle Unterstützung nicht möglich wäre, ist die Kampagne auf Spenden angewiesen: für Material, kleine Besorgungen und viel Essen oder mal eine Tafel Schokolade. Danke für euren Beitrag – das Geld wird vollständig an Stopp Oljeltinga! weitergeleitet. Die Spendenkampagne ist hier verlinkt – danke! ❤

Meldet Euch bei Fragen oder wenn ihr interessiert seid, Maßnahmen zu ergreifen, um auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.