TLDR: Chile ist ein Wunder. Welche Fragen uns beschäftigt haben und wie wir die letzten Kilometer der Reise überstanden haben

Nachdem sich Anne die Hand verstaucht hat, beginnen wir langsam weiterzufahren.Die nächsten Kilometer auf der Carretera Austral sollten ja einfach sein. Moderater Wind, und vor allem Asphalt! Da kann man auch mal mit einer unbrauchbaren Hand losfahren. So die Devise. Wir fahren weiter mit Thomas, zu dritt, stimmt unser Rhythmus nicht mehr so ganz. Oder eben anders. Es wird viel Kaffe getrunken, weniger Fahrrad gefahren. Wir schlafen lange und frühstücken bevor wir losfahren. Das bedeutet schlussendlich, dass wir meistens erst um 14 Uhr loskommen. Entsprechend wenig fahren wir, aber das war fein so mit Annes Hand.

Nach Coyhaique folgen nicht viele Städte auf der insgesamt 421 km langen Strecke bis Chaitén.Wir hatten viel Regen und fuhren durch etwa sieben Klimazonen, an drei Nationalparks vorbei und an unzählbar vielen Bergen, schroffen Felswänden, Wasserfällen, Seen und reißenden Flüssen. 

Das Ergebnis waren klamme Klamotten, die nie richtig getrocknet sind, ein kaputtes Kugellager in der Vorderachse und ein paar mitgenommene Brems- und Schaltzüge bei Anne, eine kaputte Speiche und ein ausgebeultes Hinterrad bei mir.

Aber nun mal zu den Highlights. Wir schliefen bei einem verlassenen Campingplatz Aonikenk Karho, in der Nähe des Queluat Nationalparks am hängenden Gletscher. Der ist natürlich atemberaubend, aber wir haben den uns geschenkt.Der Campingplatz wurde von den Besitzern verlassen und offen gelassen, und allen frei zur Verfügung gestellt. Wir haben durchnässt Franzosen getroffen, die den Hauptraum eines der Baumhäuser schon vorgeheizt haben.

Wir waren komplett durchnässt, weil es 25l/Quadratmeter 3h geregnet hat und wir dachten, dass man das ignorieren kann. In Villa Amengual haben wir gerade eine Reihe von Fahrradfahrern getroffen, die das Fahren aufgegeben haben und den Regen per Anhalter übersprungen haben. Die Gebirgskette vor Puyuhuapi kam uns vor wie ein überdimensionierter Luftentfeuchter des Pazifiks. Die stetigen Westwinde wehten die feuchte Luft übetr den schroffen Kamm der Südanden und wir waren im Luftentfeuchter und wollten nicht aufhören zu fahren. 

Etwa 50km weiter Richtung Norden, in Villa St. Lucia hat 2017 ein solcher Starkregen auch dazu geführt, dass ein Erdrutsch einen Gletscher abstürzen ließ. 7 Millionen Kubikmeter Eis, Schutt und Wasser wurde die Ruta 7 runterbefördert und begrub das halbe Dorf. Es ist jedoch keine Seltenheit in der Gegend, dass Starkregen Erdrutsche auslöst und die Infrastruktur der Stadt beschädigt. Als wir ankamen, gab es keinen Strom. Es regnete den ganzen Tag.

50 km weiter nördlich, beim Pumalin-Park hingegen, scheint es wieder trockener zu sein. Wir treffen am Strand auf Delphine und staunen über am Horizont dampfende Vulkane. Den Chaitén Vulkan besuchen wir noch. In der Umgebung stehen kahle Bäume und am Vulkan sieht man noch die getrocknete Lava. Der Vulkan brach 2008 aus und begrub diesmal so ziemlich die komplette Küstenstadt Chaitén unter Asche.

Auf dem Weg nach Chaitén merken wird dass Annes Kugellager im Vorderrad knackt. Die Kugeln haben kein Schmieröl mehr und fallen aus ihrer Position. Ein verrückter Berliner, der in so wenig Zeit wie möglich mit seinem etwa 6000 Euro Fahrrad von Ushuaia nach Alaska fahren möchte, rettet uns, in dem er uns hilft, das Problem ausfindig zu machen und es mit Vaseline (die eigentlich für seinen Hintern gedacht war) wieder in Ordnung bringt. Wir entdecken später einen starken Achter in meinem Hinterrad, und Annes Hand tut mehr weh. Außerdem ist Vaseline nur eine kurzfristige Lösung, wir entscheiden uns daher mit der Fähre abzukürzen. Da sie staatlich subventioniert ist, und für Fahrradfahrer sogar noch billiger ist als für Passagiere, kommen wir für gerade mal 11.000 CLP (ca. 13€) pro Person nach Puerto Montt. Eine 10 Stundenfähre über Nacht.

Wir lassen unser Equipment von der Werkstatt Valencia reparieren und erhalten eine Generalüberprüfung für wenig Geld und frisch gemahlenen Kaffee gratis! Eine Seltenheit in Chile.
Wir fahren die letzten Kilometer nach Puerto Varas. Eine Stadt am Lago Lanquihue, zwischen Vulkanen und Bergen und die nächste größere Stadt in der Region Los Lagos. Eine Region voller Vulkane, riesigen Seen und blanken Granitwundern (Valle de Cochamo). Letzteres ist unser letztes Ziel für diese Reise.

Auf dem Weg hierhin wurde uns eines klar.
Chile hat eine solche Menge von wundersamen Konstellationen, dass der Versuch zu verstehen, wie solche Mechanismen Zustande kommen uns noch lange beschäftigen werden.

Fragen über Fragen wie:

  • Woher kommen diese kontinuierlich vorherrschenden Westwinde? (Diese Frage stellten wir uns denkbar oft)
  • Warum ist es im Zentrum Chiles so trocken? Und warum im Norden?
  • Warum regnet es so kontinuierlich in manchen Zonen und 20km weiter scheint es wieder komplett trocken zu sein?
  • Warum gibt es in Chile die einzige Königspinguinkolonie auf dem Festland?
  • Warum kann man Blauwale, Delphine, Robben in Chiloe und Chaitén fast täglich besichtigen? 
  • Wie kann man Vulkane einschätzen?

Dann gibt es noch gesellschaftliche Fragen, die uns den Kopf zerbrechen lassen:

  • Wie kann Wasser teurer sein als Cola?
  • Wie konnte Pinochets Putsch gegen Allende erfolgreich sein? Es wurden schließlich öffentliche Schulen verkauft, ein freies Gesundheitssystem, sich gegen eine eigene autarke Industrie entschieden und sich auf Rohstoffexport limitiert. Scheinbar wurde sich gegen ein starkes, unabhängiges Chile entschieden, aber wieso?
  • Wieso besitzt Chile eine so hohe Fettleibigkeitsquote (nach Mexiko an zweiter Stelle mit 76%)?
  • Unter Pinochet wurde ein Neoliberalismus angestrebt, der sogar den der USA übertrifft. Wieso wurden sogar Schulen privatisiert? Und wieso behielten die Deutschen das Recht ihre deutschen Schulen in Chile zu betreiben? 

Da Thomas Geographie studiert hat und auch schon als Meteorologe gearbeitet hat, fragt Duc ihn aus, wie das ganze Klima hier zustande kommt.
Ungefähr so: heiße Luft am Äquator mit viel Feuchtigkeit steigt auf, erzeugt ein Tiefdruckgebiet, das Regen erzeugt, auch dadurch, dass die warme Luft beim Aufsteigen abkühlt. Auf Höhe der Atacama Wüste steigt die Luft wieder ab und erwärmt sich und ist trocken. Dort erzeugt es ein Hochdruckgebiet, was zur Folge hat, dass die Luft landauswärts Richtung Pazifik weht.
Es regnet dort praktisch nie. Diese sog. Wendekreiswüste erstreckt sich in der Region Antofagasta. Weiter südlich beginnt die Westwindzone. Das Phänomen am Äquator wiederholt sich in die entgegengesetzte Richtung und viel feuchte Luft vom Pazifik wird in Südosten auf die Südanden geweht, wo dann der Regen abregnet.
Bei 60 Grad südlicher Breite wird durch diesen Prozess der Jetstream angetrieben. 

Die Antworten zu den anderen Fragen liegen irgendwo zwischen Humboldtströmung und dem pazifischen Feuerring.

Die gesellschaftlichen Fragen verbergen ihre Antwort in der Geschichte, und wir treffen auf eine Freundin von Duc, Theresa, die gerade in Aachen über deutschen Schulen in Chile promoviert und hier in Chile eine Forschungsreise macht. Das Thema hört sich spezifisch an, aber man erkennt ihr Interesse für mehr – den Fußabdruck Europas aus der Kolonialismuszeit und gewisse europazentrierte Narrative stellen wir in Frage. Oder in ihren Worten: Sind die deutschen Schulen in Chile ein verlängerter Arm des Kolonialsmus/Imperialsmus? Quellen, die sie uns empfahl sind: https://es.m.wikipedia.org/wiki/Las_venas_abiertas_de_América_Latina ein Buch und das Video

Wir treffen sie zufällig in einem Hostel Climbinghouse in Puerto Vargas. Bis spät verfallen wir in hitzige Diskussion und interessierte Befragungen. Eine kurze Antwort gibt es nicht. Aber es gibt unendlich viel zu entdecken. Die beste Zusammenfassung über Chile.

Wir machen uns nun auf nach Cochamo. Von zwei Menschen hören wir schon: der schönste Ort der Welt.

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